Review< Zurück 08.03.2010
Von Max Werschitz
Alice ist erwachsen, und Tim Burton kennt keine Gnade: sie muss nicht nur schwer bewaffnet dem wunderlichen Jabberwocky an den Kragen, sondern auch den realen patriarchalischen Gesellschaftsnormen. Was dabei rauskommt und wer und was auf der Strecke bleibt sei hier kurz beleuchtet.
Was haben Kinder und Philosophen gemeinsam? Sie nehmen die Welt, oder genau genommen die Wahrnehmung der Welt, nicht als selbstverständlich hin. Kinder tun dies wenn bzw weil sie noch nicht vollständig von der Gesellschaft indoktriniert sind, Philosophen weil sie diese Indoktrination zumindest teilweise ablegen und somit hinterfragen können. Zu letzteren gehörte eindeutig Charles Lutwidge Dodgson, besser bekannt unter seinem Pseudonym Lewis Carroll, der uns vor allem als Autor von Alice's Adventures in Wonderland (1865) und Through The Looking-Glass (1871) in Erinnerung geblieben ist, dessen Leben jedoch um einiges vielschichtiger war – Carroll war unter anderem Mathematiker, Logiker, Fotograf und Anglikanischer Diakon.
Ebenso vielschichtig sind die beiden Alice-Bücher. Oberflächlich betrachtet fallen sie in das Genre der Kinderliteratur, konkret jedoch in jenes der "literary nonsense". Der Begriff "Nonsens" darf dabei jedoch nicht, wie allgemein üblich, als etwas interpretiert werden das einfach "keinen Sinn macht", sondern ist vielmehr ein Stilmittel das bewusst mit Sinnkonstruktion und (deren) Sinnhaftigkeit spielt und somit eine potentiell höchst subversive Analyse unserer Wirklichkeit bietet. Gerade Carolls Werk strotzt nur so davon: wird Alice in ihrem Wunderland mit scheinbar absurden Wesen und deren seltsamen Gepflogenheiten, Argumenten und vor allem Wörtern konfrontiert, so wird der Leser gleichzeitig ständig daran erinnert dass seine eigene Welt vielleicht auch nur ein ganz persönliches Wunderland ist das auf – vor allem sprachlich – konstruierten "Wahrheiten" beruht.
Dass Carroll genau darauf abzielte ist anhand zahlreicher explizit metalinguistischer Passagen erkennbar. Somit war es ironischerweise ein sogenanntes Kinderbuch das Dinge spielerisch vorwegnahm die etwas später u.a. Wittgenstein ("Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt") oder Saussure (mit seinem "synthetischen Zeichenbegriff") in wissenschaftliche Theorien gossen. Und Caroll übte sich nicht nur in Metalinguistik sondern auch Metafiktionalität (Alice träumt das Wunderland, aber im Wunderland träumt der Rote König Alice…), ein Aspekt der erst einige Zeit später in der Literatur des Postmodernismus so richtig aufblühen sollte.
Warum diese ausschweifende Einleitung zu Tim Burtons Alice? Sie soll vor allem zeigen was er sich als philosophisches Gepäck aufgeschultert hat. Und macht in weiterer Folge deutlich warum er zwar gute Arbeit geleistet, es sich meiner Meinung nach jedoch etwas zu leicht gemacht hat. Burton meinte in Interviews dass er nicht beabsichtigt hatte ein "Sequel" oder eine "Neuinterpretation" zu drehen, sondern hauptsächlich Alice eine "emotionale Basis" zu geben und der Geschichte mehr den Charakter einer "durchgehenden Handlung" anstatt einer "Aneinanderreihung von Ereignissen" (wie in den Büchern) zu verpassen.
Diese Entscheidung, so berechtigt sie auch ist und so solide und nachvollziehbar sie sich dann im Film manifestiert, bedingt jedoch auch das Ignorieren weiter Teile des Potentials. In Burtons Alice in Wonderland ist die im wahrsten Sinne des Wortes weltenumfassende und -erschütternde subversive Kraft des Originals einem narrativen Streamlining unterworfen worden das die "Botschaft" des Filmes auf eine (wenn auch wichtige) Schiene reduziert: die der unterdrückten jungen Frau die lernt sich gegen (patriarchalische) Gesellschaftsnormen durchzusetzen. Das Ganze verpackt in eine ziemlich geradlinige Handlung die ohne überraschende oder allzu philosophisch-verspielte Umwege den Normen eines klassischen Abenteuerfilms (oder gar online-Rollenspiels?) folgt: besorg dir die Ausrüstung, versammle deine Mitstreiter, ab in die große Endschlacht, und dann hinein in den Sonnenuntergang.
Dazwischen sinniert Alice für meinen Geschmack etwas zu oft und plakativ darüber ob es nun "ihr Traum" ist oder nicht und was das dann für Konsequenzen hat, und lässt sich etwas zu wenig auf die Frage ein die alle Wunderland-Bewohner anfangs stellen, ob sie denn die "echte" Alice ist – und vor allem WER denn diese Alice eigentlich ist, WENN sie es ist? Dies wird schließlich mittels einer etwas verkorksten Parallele zu ihrem echten Leben, in dem es (scheinbar) ihr Schicksal ist einen verweichlichten Adeligen zu heiraten, beantwortet: auch im Wunderland hat sie ein (auf einer magischen Pergamentrolle vorhergesagtes) Schicksal, und zwar den Jabberwocky zu töten. Es wird ihr jedoch von der Weißen Königin freigestellt sich dafür zu ENTSCHEIDEN. Hm. Spannender wäre es da wohl gewesen sie hätte sich ein wirklich eigenes, komplett neues aussuchen dürfen.
Was den Film, abgesehen von der Tatsache dass man wieder einmal in eine wundervoll schräge Fantasiewelt ganz in Tim Burtons Stil abtauchen kann, wirklich sehenswert macht sind die Leistungen der SchauspielerInnen. Die bis dato eher unbekannte Mia Wasikowska überzeugt voll und ganz als Alice und schafft dem Film mit ihrer Darstellung ein solides Gerüst, Helena Bonham Carter liefert als Rote Königin ein wahres Gustostückerl ab, Johnny Depp als Verrückter Hutmacher ist wie gewohnt hervorragend und als Zuckerl darf Matt Lucas (Little Britain) den computergenerierten Tweedledee und Tweedledum nicht nur seine köstliche Mimik sondern auch seine Stimme leihen. Und vor allem die weitere Liste der Synchronsprecher kann sich sehen lassen: Stephen Fry als Grinsekatze, Michael Sheen als Weißer Hase, Alan Rickman als rauchende Raupe und Christopher Lee als Jabberwocky – das Staraufgebot macht sich bezahlt. Nur Anne Hathaway als Weiße Königin bekommt nicht allzu viel zu tun.
Die Special Effects wiederum, vor allem die künstlich erzeugten Charaktere, wirken stellenweise etwas zu "glatt" und hölzern, auch hätte ich mir beim Set Design etwas mehr Fantasie und Mut (vor allem wohl Mut zur Absurdität, ganz in der Tradition von Lewis Carroll selbst) erwartet. Aber im großen und ganzen erfüllen sie ihren Zweck.
Mein Fazit: ausser Tim Burton hätte ich es zwar ohnehin niemandem zugetraut diesen Stoff abseits von Disneyscher Trickfilmtradition einigermaßen gut auf die Leinwand zu bringen, leider wird er damit jedoch weder seinem eigenen noch dem Potential der Originalgeschichte ganz gerecht. Vielleicht sollte "troubled Tim" bald einmal seinem persönlichen (Film)wunderland einen zweiten Besuch abstatten und dabei wie Alice alles erneut in Frage stellen.
Meine Wertung: |
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